Samstag, 20. November 2010
Eingestiegen
Vor kurzem habe ich mit Gothic 3 angefangen. Ich war lange abgeschreckt von den zahlreichen enttäuschten Berichten und der mittlerweile schon legendär schlechten Qualität der Release-Version, obendrauf kamen noch lange Zeit für mich unerfüllbare Hardwareanforderungen. Irgendwann kaufte ich mir eine Zeitschrift mit dem Spiel auf DVD, legte es aber erst in die Ecke, um es dann lange später auszugraben:

Nach dem Aufspielen von Fanpatch und Fanquests vor dem ersten Spielstart wurde ich bei selbigem von einigen bemerkenswert hässlichen Herstellerlogos und einem noch hässlicheren Hauptmenü mit immerhin schöner Musik begrüßt. Eine überraschend lange Ladezeit später bin ich im Spiel und werde von einem amateurhaft gemachten Intro (Orks erobern klischeehaft grölend alles, Menschen verzweifelt, errichten magisches Schutzkuppeldings um Hauptstadt, Schiff mit Helden kommt an Küste an, blablub) gequält, nur um anschließend direkt einem stupiden (und ärgerlich ruckligen) Massenkampf in einem uninteressant designten Dorf beiwohnen zu müssen. Stark störende Tutorialnachrichten versuchen derweil, mir Offensichtlichkeiten beizubringen (Linke Maustaste = Gegner Haue geben).

Schlechter kann ein Spiel kaum anfangen.

Einen Bildschirmtod und eine Bande totgeklickter Orks später folgt, als erster zarter Höhepunkt, ein hübscher Kleptomanie-Anfall, dem das nun nahezu entvölkerte Dörfchen und die Opfer der Schlacht nichts entgegenzusetzen haben. Nach einigen miserabel animierte Dialoge kann ich mich endlich dem eigentlichen Zweck eines Open World RPGs widmen: Der Erkundung.

Kaum ein paar Meter aus dem Dorf herausgetreten sehe ich, wo die ganze Energie der Entwickler hingeflossen ist: Nicht in tolle Dialoge, eine vernünftige Einführung, gute Animationen oder gar einer interessanten Geschichte, nein, man vernachlässigte all dies für unfassbar weitläufige Landschaften, wie sie ein derart kleines Studio wohl noch nie zuvor auf die Beine gestellt hat. Der Blick in die Ferne zeigt zwar einen hässlichen Unschärfeeffekt mit harter Kante und viele Unsauberkeiten, aber auch die aus dem Intro (brrrr...) bekannte magische Kuppel. Ein weiter Ozean liegt vor dem Küstendorf. Auf einer Klippe steht malerisch ein Leuchtturm, eine kleine Insel ist zu erkennen, ebenso ein kilometerlanger Sandstrand. Auf der Landseite erstreckt sich eine dicht bewachsene und organisch wirkende Hügellandschaft. Ich weiß von der ersten Sekunde an, dass ich alles was ich sehen auch erkunden kann. Ich weiß, ich werde es irgendwann zu dieser Stadt mit der magischen Kuppel schaffen, zu der Insel im Meer und ich werde gleich sofort einen Abstecher zu dem Leuchtturm unternehmen, nur um mich dann in Richtung des nahen Waldes zu orientieren. Aus dem wenig beeindruckenden Startdorf habe ich schon, auch dank merkwürdig vertonter Dialoge aus der Community, mehr als ein halbes Dutzend Quests mitgebracht und brenne darauf, die darin beschriebenen fernen Orte zu sehen.

Die einem Ork abgenommene Karte zeigt einen riesigen Kontinent mit unzähligen Siedlungen, Städten, Wäldern und sicherlich vielen Dungeons und Gegner darin zu dazwischen.

Besser kann ein Spiel kaum anfangen.

Einige Schritte weiter komme ich zu ein paar Fischerhütten, lausche Dialogen, die mich nicht groß interessieren, denn schon hat sich mein Blick dem Strand zugewandt. "Joa," denke ich mir "diesen Strand könnte ich vielleicht heute Abend noch ablaufen und vielleicht ein paar Gegner und Schätze finden." Auf dem Weg zum Strand gucke ich ein paar schludrigen Klippingfehlern auf dem Rücken des Helden zu, nur um zu merken, wie verdammt lang dieser Sandstreifen eigentlich ist. Überraschend leicht komme ich mit den Gegnern, einigen Tieren und einem Menschen, klar und laufe und laufe und laufe. Minutenlang. Der Strand nimmt kein Ende, mir wird die Sache unheimlich und ich kehre um, zurück zu dem vertrauten Stückchen Erde mit seinen grünen Hügeln, seinen Laufvögeln und Hirschen um das Dorf.

Ich erinnere mich noch an den Strand aus der Demo von Risen, dem inoffiziellen Nachfolger dieses Spiels. Wenige hundert Meter lang, eng begrenzt und leicht überschaubar. Ich hatte mit einem ähnlichen Strand gerechnet, bekomme aber im megalomanischen Gothic 3 das Ergebnis eines Größenwahns zu sehen. Es ist scheinbar ein Traum für einen Entdecker von Spieler wie mich. Ich liebe es, jedes Detail eines Spiels aufzusaugen, jeden Winkel zu erkunden, selbst in kurzen linearen Spielen. Mich interessiert kein perfekter Highscore, kein reibungsloser Durchlauf, kein schneller Fortschritt. Ich zähle die Stunden beim Spielen nicht, lasse mir mein Tempo nicht vorschreiben. Ich fühle mich, etwas selbstherrlich, als Gourmet beim Spielen, der sein Essen genießt und nicht hastig bis zum nächsten kurzen Snack herunterschlingt.

Doch Gothic 3 ist mir nach diesen ersten Spielstunden unheimlich, das Mahl wirkt zu üppig um noch gesund sein zu können. Ich kenne Titel wie Morrowind, Oblivion, Gothic 1 und 2, die GTA-Serie sowie zahlreiche andere Spiele mit offener Welt, aber selten zuvor fühlte ich mich so erschlagen ob der Möglichkeiten. Woran liegt das?

Es könnte sich mit dem vertrauten Gothic-Gefühl erklären lassen. Gothic 2 z. B., das ich lange und intensich gespielt habe, bietet eine zwar große, aber auch straff gestaltete Spielwelt, die sich dem Spieler langsam erschließt und dessen Größe er lange Zeit nicht abschätzen kann und auch nicht als besonders groß schätzt, zumindest war dies in meinem Fall so. Schon nach kurzer Zeit fühlt man sich vom Bewegungsgefühl und der Atmosphäre, auch dank der dunkleren Texturen des Fanpatches, fast wie in Gothic 2. Der Unterschied: Man sieht früh dank Karte und enormer Weitsicht, in was für eine gigantische Sandbox man gesteckt worden ist.

Das Ergebnis ist ein schwer zu beschreibendes Gefühl, irgendwo zwischen "Ich will da überall hin!" und "Ohjehohje, das wird meine knappe Freizeit aufsaugen!" Trotz vieler richtungsgebender Quests fühlt man sich angenehm-unangenehm verloren. Kurze Abstecher werden zu überraschend langen Ausflügen, siehe Strand.

Das alles ging mir, im Groben, während der ersten Sitzung Gothic 3 durch den Kopf. Später habe ich mich erst einmal Richtung Rebellenlager orientiert, eine enttäuschend unspektakuläre Höhle gesäubert, ein paar Banditen und Orks außerhalb des Dorfes erledit. Mein Blick wendet sich langsam den fernen Städten zu und noch ferneren Landschaften, denn ich weiß von einer Wüste und einer verschneiten Berggegend.

Eigentlich wollte ich hier etwas Allgemeines zu Spielwelten und auch Mechaniken in Open World WRPGs schreiben, aber dieser Text hat sich, wies schon manch anderer Beitrag für diesen Blog, in eine andere Richtung entwickelt. Ich hoffe ich konnte vermitteln, wie ich Gothic 3 wahrgenommen habe und damit vielleicht den einen oder anderen dazu bewegen, noch einmal über das Spiel selbst und vor allem die Art und Weise wie man in seine Welt geworfen wird nachzudenken.

Bei positiver Resonanz (ein oder zwei Leser habe ich trotz geringer Veröffentlichungsdisziplin wohl noch) werde ich noch zu ein paar anderen Titeln ähnliche Erfahrungsberichte zu dem unmittelbaren Spielanfang schreiben. Die neue Kategorie heißt, wenig kreativ, "Eingestiegen". Vielleicht eignet sich das Format auch für Bücher, Filme und TV-Serien. Zu Gothic 3 selbst wird mit Sicherheit noch etwas kommen. Nicht unbedingt ein Spieltagebuch und wahrscheinlich weniger detailliert als oben, aber dieses komplexe Werk bietet eine Fülle von Aspekten, über die man schreiben könnte.